Vom Gewinnen und Verlieren
„Dieses Mal findet die Fußballweltmeisterschaft in Russland statt“, sagt Papa.
„Fahren wir dorthin?“, will Marlon wissen.
Papa lacht und Mama verdreht die Augen.
„Das ist für uns viel zu weit. Du weißt doch, wo Russland liegt. Darüber haben wir neulich gesprochen.“
„Na und? Wir können fliegen. Das ist cool.“
Marlon denkt an die Flugreise nach Athen in den Weihnachtsferien und an das kribbelnde Gefühl beim Blick auf die Wolken. Von oben. Vom Flugzeugfenster aus. Ja, das war toll!
„Fliegen ist genau so toll wie Fußball, und Fliegen und Fußball, das ist sogar mega.“
„Cool! Toll! Mega! Woher hast du all diese Worte?“ Nun ist es Papa, der die Augen verdreht.
„Papa, du bist voll altmodisch!“, schimpft Marlon und schaut seine Mutter an.
„Ist er nicht!“, sagt Mama. „Diese Wörter sind einfach nicht schön.“
„Dann sag mir doch mal ein paar schöne Wörter!“, bittet Marlon und schiebt gleich ein in seinen Augen schönes Wort nach. „Meinst du so etwas wie ‚Sommerferien‘ oder ‚Weltmeisterschaft’?“
„Sommerferien?“, fragt Mama. „Ja, dieses Wort gefällt mir. Es klingt gemütlich wie Sonnenschein, Erdbeermarmelade, Glühwürmchen, Blütenduft, Lachen, Liebhaben, Lavendelblau und Klatschmohnrot. Alles Worte, die ich im Sommer liebe. Weltmeisterschaft dagegen ist keines meiner Lieblingsworte, obwohl ich gerne Fußball spiele. Damit aber meine ich das Spielen und nicht das Kämpfen um einen Pokal. Kämpfen nämlich hat immer zwei Seiten und eine davon gefällt mir nicht.“
Nachdenklich sieht Marlon Mama an.
„Aber du spielst doch auch, um zu gewinnen! Oder etwa nicht?“, fragt er. „Eine Weltmeisterschaft ist doch nichts anderes: Gewinnen und verlieren!“
„Aber um welchen Preis?“ Mama seufzt. Dann schüttelt sie den Kopf. „Nein, ich mag es nicht. Nicht mehr. Früher fühlte sich das mit der Weltmeisterschaft anders an. Das glaube ich zumindest. Was denkst du?“ Fragend blickt sie Papa an.
Der nickt. „Ich glaube, ich weiß, was du meinst“, sagt er.
Marlon beginnt sich zu langweilen. Er denkt an den neuen Ball, der dort auf dem Rasen liegt.
„Kommt ihr mit in den Garten? Wir können um einen Preis spielen. Wenn ich verliere, räume ich den Geschirrspüler aus“, schlägt er vor.
Papa grinst. „Wenn ich verliere, gebe ich ein Eis aus.“
„Und ich koche uns leckere Spaghetti“, fügt Mama hinzu.
Gewinnen, verlieren, gewinnen, verlieren
Am Abend gibt es Spaghetti, hinterher ein Eis und Marlon räumt freiwillig den Geschirrspüler aus.
„Auf diese Weise haben wir alle gewonnen, stimmt’s?“, sagt Marlon stolz, denn wenn man so lange spielt, bis jeder mal verloren hat, tut das Verlieren gar nicht weh.
(© Elke Bräunling & Regina Meier zu Verl)
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